Weder Kommunismus noch Kapitalismus
Im
Staate ist das Gemeinwesen derart eingerichtet, daß die gemeinsamen
Angelegenheiten eines ganzen großen Volkes der Willkür einer
allmächtigen Bureaukratie ausgeliefert sind, die den Unterthau
bevormundet und ihn von der Wiege bis zum Grabe nicht losläßt. Seit der
französischen Revolution haben die Völker des europäischen Festlandes
krampfhafte Anstrengungen gemacht, den Staat den alten und
mittelalterlichen Städterepubliken ähnlich zu machen und die Unterthanen
in freie Bürger zu verwandeln, aber aus Gründen, die auf der Hand
liegen, vergebens: Bauern, Schuster und Schneider können sich zwar in
einem Gemeinwesen von tausend, von zehntausend, auch von hunderttausend
Mitgliedern selbst regieren, aber nimmermehr in einem, das zehn bis
hundert Millionen umfaßt. Unsre Parlamente sind der Hauptsache nach
Debattirklubs, die, obwohl sie sich Volksvertretungen nennen, nicht
einmal so viel Macht haben, den »freien Staatsbürger« vor der Willkür
eines Polizeibeamten, Gendarmen oder Unteroffiziers zu schützen. Nur
dieses eine haben die Parlamente bewirkt, daß die Bureaukratie, d. h.
die Gesamtheit der höhern Staatsbeamten, ihre Macht mit den obern
Hunderttausend teilen muß. In Frankreich, Italien und Belgien sind das
Staatsoberhaupt und die Minister einfach zu Agenten der Finanzfürsten
herabgesunken, in Österreich ist man beinahe so weit, in Deutschland
suchen die Krone und die Minister ihre Unabhängigkeit mit wechselndem
Erfolg noch zu wahren, können jedoch keinen Schritt thun ohne
Verständigung mit den herrschenden Klassen und ohne weitgehende
Rücksicht auf ihre Wünsche. Der Regierung kommt dabei die Spaltung der
Herrschenden in Großindustrielle, Magnaten, Großhändler und Geldfürsten
zu statten, deren Interessen vielfach in Konflikt mit einander geraten.
Der gemeine Mann, der »freie Staatsbürger,« wie heutzutage der Unterthan
genannt wird, kommt nur soweit in Betracht, als er am Leben und
einigermaßen arbeits- und zahlungsfähig bleiben muß, wenn die
Herrschenden auf die Rechnung kommen sollen. Er kann schon froh sein,
wenn die Regierung wenigstens die Grenze erkennt, bis zu der er belastet
werden kann, ohne erdrückt zu werden. Im monarchischen Staate darf er
auf dieses Maß von Einsicht noch eher rechnen als in der Republik, weil
der Monarch an seine Dynastie und deren Zukunft denkt, die davon
abhängt, wie viel Kerls, Pferde und Steuern die Unterthanen zu liefern
vermögen, während die republikanischen Machthaber ihre »Dynastien« schon
genügend sichern, wenn sie ein paar Millionen auf die Seite bringen.
Die leidenschaftliche und nervöse Stimmung der Parlamente, ihre
Planlosigkeit und Unsicherheit entspringt einerseits aus ihrer oben
erwähnten Spaltung in Gruppen mit entgegengesetzten Interessen,
andrerseits aus ihrem Verhältnis zum Volke, zu den Unterthanen. Sie
brauchen das Volk als Stimmvieh; verleiht ihnen ja doch die Wahl durchs
Volk das formelle Recht, ihre Ansprüche, die sie sonst mit Intriguen und
Bestechung durchzusetzen suchen müßten, auf legitimem Wege geltend zu
machen. Andrerseits schweben sie in beständiger Angst bei dem Gedanken,
dieses Volk könne sich von ihnen emanzipiren und statt ihrer
Parteigänger seine eignen Vertreter ins Parlament schicken.
Es sind sehr ehrwürdige Traditionen, die in Preußen den Staat, das ist den König mit seiner Bureaukratie, mit einem Heiligenschein überstrahlt und ihn zu einem höhern Wesen, ja zum Gott gemacht haben. Aber es sind sehr irdische Verhältnisse, die diesem Idealbilde Macht über die Gemüter und Geltung verschaffen auch noch in einer Zeit, wo ihm die Wirklichkeit nicht mehr entspricht und nicht mehr entsprechen kann. Wie alle andern Zweige des öffentlichen Lebens, so hat die Bureaukratie auch das Lehramt an sich gerissen; sie ist nicht allein unsre Beherrscherin, sondern auch unsre Ecclesia docens. Wie der katholische Laienstand in kirchlichen Dingen, so haben wir Unterthanen in weltlichen Dingen nur zu hören; unsre Beherrscher sind zugleich unsre Lehrer, die uns unsre Begriffe machen. Diese unsre Lehrer, die Universitätsprofessoren, sind Glieder der herrschenden Körperschaft, des Staates, und sie werden sich hüten, einen andern Begriff vom Staate in Umlauf zu bringen als den, der ihnen selbst am meisten frommt. Der Ketzer gegen den orthodoxen Staatsbegriff wird nicht verbrannt, aber zum Hungertode verurteilt; eine Anstellung bekommt er nicht, seine Ansichten wagt keine Zeitung oder Zeitschrift zu veröffentlichen, seine Bücher nimmt kein Verleger an, und er ist verloren, wenn er nicht einer vom Staate unabhängigen machtvollen Körperschaft angehört, wie die katholische Kirche noch eine ist, und wie die in der Sozialdemokratie organisirte Arbeiterschaft zu werden im Begriff steht.
Nach unsern Staatsrechtslehrern wäre der Staat das organisirte Volk. Das sollte er allerdings sein, aber er ist es nicht. In den romanischen Ländern und in Rußland ist der Staat weiter nichts als ein Schmarotzergewächs, das am Marke des Volks zehrt und es aussaugt. In Österreich und Deutschland strebt er demselben Ziele zu; mehr und mehr fallen Staat und Volk auseinander. Organisirt waren die Völker, war namentlich das deutsche Volk im Mittelalter. Da konnte man von einem Körper, von Organen und Organismus reden. Durch seine Innung war der Handwerker, durch seine Gilde der Kaufmann, durch seine Gemeinde der Bauer, durch seine geistliche Korporation der Geistliche in den Gesamtkörper eingefügt. Jeder befand sich an seinem Platze und diente durch seine Berufsarbeit zunächst dem engern Verbande, dem er angehörte, und hierdurch dem Ganzen. Sein persönliches Interesse fiel mit dem seiner Berufsgenossen zusammen, und es machte dabei keinen Unterschied, ob er arm oder reich war; Vermögensgegensätze wie die heutigen gab es überhaupt nicht. So war jeder als Glied dem Ganzen eingefügt. [Fußnote] Heute sind wir Flugsand, nicht Glieder eines Leibes. Nicht einmal seinen Ort hat der einzelne mehr, wo er einem Gliede eingefügt werden könnte, wenn es eins gäbe. Es ist wahr, sein Name steht in der Leipziger Steuerrolle und nicht in der Berliner, aber er kann in jedem Augenblicke seine Arbeit verlieren oder von einem höhern Lohnangebot nach Berlin gelockt werden; dann wird er eben aus einer Liste in die andre übertragen. Ein Beamter hat sich eben in Straßburg eingerichtet, kaum ist er warm geworden, so wird er nach Königsberg geschleudert. Daß die Handwerker, unter denen er lebt, seine Besoldung aufbringen, und daß sie Geld verdienen müssen, wenn sie Steuern zahlen sollen, daran denkt der Beamte nicht mehr, selbst wenn er nicht königlicher, sondern städtischer Beamter ist; er kauft seine Kleider, seine Möbel, seine Zigarren im Berliner Warenhause des Beamtenvereins, und bei den Handwerkern und Kaufleuten seines Wohnorts nur dann, wenn er kein Geld hat, um bar zu bezahlen. Was bleibt den ruinirten Handwerkern und Krämern der kleinen Orte übrig? Sie müssen nach Berlin ziehen, und sehen, ob sie dort Arbeit oder Anstellung finden, wo der Staat, der alles Leben an sich zieht, seinen eigentlichen Wohnsitz hat. Schon darum hat der moderne Mensch keinen eignen Ort mehr, wo er irgend einem Gliede der Gesellschaft eingefügt sein könnte, weil er meistens kein eignes Haus besitzt. Die Zahl der Hausbesitzer wird im Verhältnis zur steigenden Einwohnerzahl täglich kleiner. In der Großstadt haben wir auf der einen Seite ein paar hunderttausend Menschen, die von den Stürmen des Waren- und Arbeitsmarktes wie Triebsand herumgewirbelt und aus einer Mietkaserne in die andre gejagt werden, auf der andern ein paar hundert Hausbesitzer, die so wenig wie jene an den Ort gebunden sind, sondern den Mietzins ihrer Häuser, wenn es ihnen so paßt, in Paris oder an der Riviera verzehren können.
Höchster Anerkennung ist es wert, daß der preußische Staat durch seine Städteordnung, später durch die Kreis- und Landgemeindeordnung die in der absolutistischen Zeit teils zerstörte, teils verrottete Selbstverwaltung der Gemeinden einigermaßen wiederbelebt hat. Dagegen sind alle Anläufe zur Wiederherstellung der noch wichtigern berufsgenossenschaftlichen Gliederung teils erfolglos geblieben, teils ins Gegenteil umgeschlagen. Nicht anders ist es den Bemühungen um Befestigung des Besitzes der Mittelklassen ergangen, die, wenn sie gelungen wären, immerhin einen Damm gegen den Flugsand aufgerichtet haben würden. Als klassisches Beispiel möge die Spiritussteuer erwähnt werden, die die mittelgroßen Grundbesitzer durch Begünstigung ihrer Brennereien schützen sollte, sie aber, wie sie klagen, vollends umgebracht hat, während die gewaltigen Steuervergünstigungen fast ausschließlich den großen Brennereien oder vielmehr deren ohnehin reichen Besitzern zugute kommen und diese noch reicher machen.
Es liegt im Wesen der rein mechanisch gefügten Bureaukratie, daß alles, was sie schafft, nicht organischer Natur ist, sondern auf eine rein mechanische Über- und Unterordnung hinausläuft, bei der die untergeordneten Teile nur durch Zwang an der ihnen willkürlich angewiesenen Stelle festgehalten werden. Diese rein mechanische Schichtung entspricht durchaus der sozialen oder vielmehr unsozialen Entwicklung unsrer Zeit, die alle gesellschaftlichen Organismen auflöst und die Menschen in die beiden Schichten der Armen und der Reichen zusammenschwemmt, deren eine durch den Hunger gezwungen wird, der andern zu dienen. Es wäre widernatürlich, wenn sich diese beiden parallelen Schichtungen nicht verschmelzen und gegenseitig durchdringen sollten: die Bureaukratie und die Reichen verbünden sich zur Beherrschung und Darniederhaltung der Armen. Aber die Bruchfläche der Schichtung liegt nicht etwa unterhalb der Bureaukratie, sondern geht mitten durch sie hindurch. Vorläufig allerdings läßt sich das erst in einem Zweige der Staatsverwaltung erkennen, in der Postverwaltung, wo die Behörden alle Hände voll zu thun haben, das Streben der Subalternen und Unterbeamten nach Organisation in einem Verein zu unterdrücken. aber es kann nicht fehlen, daß diese ganz natürliche Bewegung allmählich in die andern Verwaltungszweige übergreift. Auch hier wiederum muß anerkannt werden, daß die Hohenzollern redlich bemüht gewesen sind, dieser Entwicklung vorzubeugen und Schirmherren des gemeinen Volks wider reiche Unterdrücker zu sein, allein gegen diesen gewaltigen Zersetzungsprozeß haben sie nichts auszurichten vermocht.
Wie furchtbar ist doch die dadurch geschaffene Lage! Der Freiherr von Stumm hat es offen im Reichstag ausgesprochen, daß er die Arbeiterfrage als reine Machtfrage auffasse, und er hat die Regierung aufgefordert, von ihrer Macht rücksichtslos Gebrauch zu machen. Sehr einflußreiche Preßstimmen haben ihm beigepflichtet, und keine der bürgerlichen Parteien hat dieser Auffassung mit Nachdruck widersprochen. Das heißt also: die Lohnarbeiter, die zur Zeit die kleinere Hälfte der Bevölkerung bilden und vielleicht schon nach zehn Jahren die größere bilden werden, denen sich möglicherweise auch zahlreiche Kleinbürger, Kleinbauern und Unterbeamte anschließen, diese Lohnarbeiter wollen unter den bisherigen Bedingungen nicht mehr weiter schaffen und dienen, und der Staat soll sie zwingen, es zu thun. Sein Zwangsmittel ist sein Heer. Dieses Heer besteht zur Hälfte aus Söhnen der rebellischen Klasse. Die Entscheidung hängt also davon ab, ob diese bereit sind, ihrem Eide getreu, auf ihre Brüder, Väter und Mütter zu schießen, wenn es ihnen befohlen wird. Nur eins giebt es, was dem Eide Kraft verleiht, das ist der Glaube an den lebendigen persönlichen Gott, und zwar ein Glaube, der sich auf keine Kasuistik einläßt und nicht untersucht, ob ein Eid auch dann binde, wenn man mit Berufung auf ihn zu einer Handlung gezwungen wird, der nicht allein die Empfindung, sondern auch das Gewissen widerstrebt. Und auf dieses dünnen Messers Schneide gedenkt man die Gesellschaftsordnung und den Staat zu bauen, ein Jahr nachdem der große Entrüstungssturm die »Auslieferung der Schule an die Kirche« verhütet hat, während doch der einfältigste Kirchenglaube allein jene unbedingte Eidestreue sichern kann, für die es auf freigeistigem Standpunkte gar keine Möglichkeit vernünftiger Begründung giebt!
Das ist die Frucht der schrankenlosen Zentralisation! Im Altertum, im Mittelalter verlief der gesellschaftliche Lebensprozeß in kleinen Kreisen. Mochte immerhin bald hier bald dort eine kleine Revolution ausbrechen, sie bedeutete nur ein Entwicklungsfieber des einzelnen kleinen Gemeinwesens, in dem sie sich ereignete; sie wirkte wohl auch als Lebenswecker, und die von ihr geschlagnen Wunden hatten nicht mehr zu bedeuten als Hautritze, die sich ein kräftiger Knabe beim Spielen oder Turnen holt, der Volkskörper im ganzen aber wurde davon gar nicht berührt. Nachdem der Staat alle diese kleinen selbständigen Organisationen zerstört und sich alle Seelen eines Fünfzigmillionenvolks unmittelbar unterthan gemacht hat, findet sich nun das Volk in zwei Massen geteilt, die Herrschenden und die Beherrschten, die sich in Todfeindschaft gegenüberstehen. Bedenkt man nun noch die Vervollkommnung unsrer Mordwaffen und Zerstörungswerkzeuge, so muß man sagen: der Bauernkrieg des sechzehnten Jahrhunderts und die französische Revolution sind Kinderspiele gewesen gegen das, was wir erleben würden, wenn die bestehende Spannung eine gewaltsame Lösung fände. Wahrscheinlich ist es allerdings nicht, daß es zu einer solchen kommt. Eine große Zahl der Armen wird teils durch religiöse, teils durch patriotische Bedenken, teils durch die Unklarheit über die Quelle ihres Elends, teils durch Stumpfsinn und das Übermaß von Abhängigkeit vom Anschluß an die Umsturzpartei zurückgehalten. Allein der Gedanke an die Verkümmerung und an das Elend, dem die Masse unsers Volks verfallen muß, wenn die herrschenden Kreise ihre Herrschaft uneingeschränkt aufrecht erhalten, ist noch schrecklicher und widerwärtiger als der an ein ungeheures Blutbad und den Zusammenbruch der bestehenden Ordnung. Denn aus dem Chaos kann ein neues lebenskräftiges Volk wiedererstehn, nicht aber aus dem Sumpfe der Verkümmerung,
http://gutenberg.spiegel.de/…/weder-kommunismus-noch-kap…/16
Es sind sehr ehrwürdige Traditionen, die in Preußen den Staat, das ist den König mit seiner Bureaukratie, mit einem Heiligenschein überstrahlt und ihn zu einem höhern Wesen, ja zum Gott gemacht haben. Aber es sind sehr irdische Verhältnisse, die diesem Idealbilde Macht über die Gemüter und Geltung verschaffen auch noch in einer Zeit, wo ihm die Wirklichkeit nicht mehr entspricht und nicht mehr entsprechen kann. Wie alle andern Zweige des öffentlichen Lebens, so hat die Bureaukratie auch das Lehramt an sich gerissen; sie ist nicht allein unsre Beherrscherin, sondern auch unsre Ecclesia docens. Wie der katholische Laienstand in kirchlichen Dingen, so haben wir Unterthanen in weltlichen Dingen nur zu hören; unsre Beherrscher sind zugleich unsre Lehrer, die uns unsre Begriffe machen. Diese unsre Lehrer, die Universitätsprofessoren, sind Glieder der herrschenden Körperschaft, des Staates, und sie werden sich hüten, einen andern Begriff vom Staate in Umlauf zu bringen als den, der ihnen selbst am meisten frommt. Der Ketzer gegen den orthodoxen Staatsbegriff wird nicht verbrannt, aber zum Hungertode verurteilt; eine Anstellung bekommt er nicht, seine Ansichten wagt keine Zeitung oder Zeitschrift zu veröffentlichen, seine Bücher nimmt kein Verleger an, und er ist verloren, wenn er nicht einer vom Staate unabhängigen machtvollen Körperschaft angehört, wie die katholische Kirche noch eine ist, und wie die in der Sozialdemokratie organisirte Arbeiterschaft zu werden im Begriff steht.
Nach unsern Staatsrechtslehrern wäre der Staat das organisirte Volk. Das sollte er allerdings sein, aber er ist es nicht. In den romanischen Ländern und in Rußland ist der Staat weiter nichts als ein Schmarotzergewächs, das am Marke des Volks zehrt und es aussaugt. In Österreich und Deutschland strebt er demselben Ziele zu; mehr und mehr fallen Staat und Volk auseinander. Organisirt waren die Völker, war namentlich das deutsche Volk im Mittelalter. Da konnte man von einem Körper, von Organen und Organismus reden. Durch seine Innung war der Handwerker, durch seine Gilde der Kaufmann, durch seine Gemeinde der Bauer, durch seine geistliche Korporation der Geistliche in den Gesamtkörper eingefügt. Jeder befand sich an seinem Platze und diente durch seine Berufsarbeit zunächst dem engern Verbande, dem er angehörte, und hierdurch dem Ganzen. Sein persönliches Interesse fiel mit dem seiner Berufsgenossen zusammen, und es machte dabei keinen Unterschied, ob er arm oder reich war; Vermögensgegensätze wie die heutigen gab es überhaupt nicht. So war jeder als Glied dem Ganzen eingefügt. [Fußnote] Heute sind wir Flugsand, nicht Glieder eines Leibes. Nicht einmal seinen Ort hat der einzelne mehr, wo er einem Gliede eingefügt werden könnte, wenn es eins gäbe. Es ist wahr, sein Name steht in der Leipziger Steuerrolle und nicht in der Berliner, aber er kann in jedem Augenblicke seine Arbeit verlieren oder von einem höhern Lohnangebot nach Berlin gelockt werden; dann wird er eben aus einer Liste in die andre übertragen. Ein Beamter hat sich eben in Straßburg eingerichtet, kaum ist er warm geworden, so wird er nach Königsberg geschleudert. Daß die Handwerker, unter denen er lebt, seine Besoldung aufbringen, und daß sie Geld verdienen müssen, wenn sie Steuern zahlen sollen, daran denkt der Beamte nicht mehr, selbst wenn er nicht königlicher, sondern städtischer Beamter ist; er kauft seine Kleider, seine Möbel, seine Zigarren im Berliner Warenhause des Beamtenvereins, und bei den Handwerkern und Kaufleuten seines Wohnorts nur dann, wenn er kein Geld hat, um bar zu bezahlen. Was bleibt den ruinirten Handwerkern und Krämern der kleinen Orte übrig? Sie müssen nach Berlin ziehen, und sehen, ob sie dort Arbeit oder Anstellung finden, wo der Staat, der alles Leben an sich zieht, seinen eigentlichen Wohnsitz hat. Schon darum hat der moderne Mensch keinen eignen Ort mehr, wo er irgend einem Gliede der Gesellschaft eingefügt sein könnte, weil er meistens kein eignes Haus besitzt. Die Zahl der Hausbesitzer wird im Verhältnis zur steigenden Einwohnerzahl täglich kleiner. In der Großstadt haben wir auf der einen Seite ein paar hunderttausend Menschen, die von den Stürmen des Waren- und Arbeitsmarktes wie Triebsand herumgewirbelt und aus einer Mietkaserne in die andre gejagt werden, auf der andern ein paar hundert Hausbesitzer, die so wenig wie jene an den Ort gebunden sind, sondern den Mietzins ihrer Häuser, wenn es ihnen so paßt, in Paris oder an der Riviera verzehren können.
Höchster Anerkennung ist es wert, daß der preußische Staat durch seine Städteordnung, später durch die Kreis- und Landgemeindeordnung die in der absolutistischen Zeit teils zerstörte, teils verrottete Selbstverwaltung der Gemeinden einigermaßen wiederbelebt hat. Dagegen sind alle Anläufe zur Wiederherstellung der noch wichtigern berufsgenossenschaftlichen Gliederung teils erfolglos geblieben, teils ins Gegenteil umgeschlagen. Nicht anders ist es den Bemühungen um Befestigung des Besitzes der Mittelklassen ergangen, die, wenn sie gelungen wären, immerhin einen Damm gegen den Flugsand aufgerichtet haben würden. Als klassisches Beispiel möge die Spiritussteuer erwähnt werden, die die mittelgroßen Grundbesitzer durch Begünstigung ihrer Brennereien schützen sollte, sie aber, wie sie klagen, vollends umgebracht hat, während die gewaltigen Steuervergünstigungen fast ausschließlich den großen Brennereien oder vielmehr deren ohnehin reichen Besitzern zugute kommen und diese noch reicher machen.
Es liegt im Wesen der rein mechanisch gefügten Bureaukratie, daß alles, was sie schafft, nicht organischer Natur ist, sondern auf eine rein mechanische Über- und Unterordnung hinausläuft, bei der die untergeordneten Teile nur durch Zwang an der ihnen willkürlich angewiesenen Stelle festgehalten werden. Diese rein mechanische Schichtung entspricht durchaus der sozialen oder vielmehr unsozialen Entwicklung unsrer Zeit, die alle gesellschaftlichen Organismen auflöst und die Menschen in die beiden Schichten der Armen und der Reichen zusammenschwemmt, deren eine durch den Hunger gezwungen wird, der andern zu dienen. Es wäre widernatürlich, wenn sich diese beiden parallelen Schichtungen nicht verschmelzen und gegenseitig durchdringen sollten: die Bureaukratie und die Reichen verbünden sich zur Beherrschung und Darniederhaltung der Armen. Aber die Bruchfläche der Schichtung liegt nicht etwa unterhalb der Bureaukratie, sondern geht mitten durch sie hindurch. Vorläufig allerdings läßt sich das erst in einem Zweige der Staatsverwaltung erkennen, in der Postverwaltung, wo die Behörden alle Hände voll zu thun haben, das Streben der Subalternen und Unterbeamten nach Organisation in einem Verein zu unterdrücken. aber es kann nicht fehlen, daß diese ganz natürliche Bewegung allmählich in die andern Verwaltungszweige übergreift. Auch hier wiederum muß anerkannt werden, daß die Hohenzollern redlich bemüht gewesen sind, dieser Entwicklung vorzubeugen und Schirmherren des gemeinen Volks wider reiche Unterdrücker zu sein, allein gegen diesen gewaltigen Zersetzungsprozeß haben sie nichts auszurichten vermocht.
Wie furchtbar ist doch die dadurch geschaffene Lage! Der Freiherr von Stumm hat es offen im Reichstag ausgesprochen, daß er die Arbeiterfrage als reine Machtfrage auffasse, und er hat die Regierung aufgefordert, von ihrer Macht rücksichtslos Gebrauch zu machen. Sehr einflußreiche Preßstimmen haben ihm beigepflichtet, und keine der bürgerlichen Parteien hat dieser Auffassung mit Nachdruck widersprochen. Das heißt also: die Lohnarbeiter, die zur Zeit die kleinere Hälfte der Bevölkerung bilden und vielleicht schon nach zehn Jahren die größere bilden werden, denen sich möglicherweise auch zahlreiche Kleinbürger, Kleinbauern und Unterbeamte anschließen, diese Lohnarbeiter wollen unter den bisherigen Bedingungen nicht mehr weiter schaffen und dienen, und der Staat soll sie zwingen, es zu thun. Sein Zwangsmittel ist sein Heer. Dieses Heer besteht zur Hälfte aus Söhnen der rebellischen Klasse. Die Entscheidung hängt also davon ab, ob diese bereit sind, ihrem Eide getreu, auf ihre Brüder, Väter und Mütter zu schießen, wenn es ihnen befohlen wird. Nur eins giebt es, was dem Eide Kraft verleiht, das ist der Glaube an den lebendigen persönlichen Gott, und zwar ein Glaube, der sich auf keine Kasuistik einläßt und nicht untersucht, ob ein Eid auch dann binde, wenn man mit Berufung auf ihn zu einer Handlung gezwungen wird, der nicht allein die Empfindung, sondern auch das Gewissen widerstrebt. Und auf dieses dünnen Messers Schneide gedenkt man die Gesellschaftsordnung und den Staat zu bauen, ein Jahr nachdem der große Entrüstungssturm die »Auslieferung der Schule an die Kirche« verhütet hat, während doch der einfältigste Kirchenglaube allein jene unbedingte Eidestreue sichern kann, für die es auf freigeistigem Standpunkte gar keine Möglichkeit vernünftiger Begründung giebt!
Das ist die Frucht der schrankenlosen Zentralisation! Im Altertum, im Mittelalter verlief der gesellschaftliche Lebensprozeß in kleinen Kreisen. Mochte immerhin bald hier bald dort eine kleine Revolution ausbrechen, sie bedeutete nur ein Entwicklungsfieber des einzelnen kleinen Gemeinwesens, in dem sie sich ereignete; sie wirkte wohl auch als Lebenswecker, und die von ihr geschlagnen Wunden hatten nicht mehr zu bedeuten als Hautritze, die sich ein kräftiger Knabe beim Spielen oder Turnen holt, der Volkskörper im ganzen aber wurde davon gar nicht berührt. Nachdem der Staat alle diese kleinen selbständigen Organisationen zerstört und sich alle Seelen eines Fünfzigmillionenvolks unmittelbar unterthan gemacht hat, findet sich nun das Volk in zwei Massen geteilt, die Herrschenden und die Beherrschten, die sich in Todfeindschaft gegenüberstehen. Bedenkt man nun noch die Vervollkommnung unsrer Mordwaffen und Zerstörungswerkzeuge, so muß man sagen: der Bauernkrieg des sechzehnten Jahrhunderts und die französische Revolution sind Kinderspiele gewesen gegen das, was wir erleben würden, wenn die bestehende Spannung eine gewaltsame Lösung fände. Wahrscheinlich ist es allerdings nicht, daß es zu einer solchen kommt. Eine große Zahl der Armen wird teils durch religiöse, teils durch patriotische Bedenken, teils durch die Unklarheit über die Quelle ihres Elends, teils durch Stumpfsinn und das Übermaß von Abhängigkeit vom Anschluß an die Umsturzpartei zurückgehalten. Allein der Gedanke an die Verkümmerung und an das Elend, dem die Masse unsers Volks verfallen muß, wenn die herrschenden Kreise ihre Herrschaft uneingeschränkt aufrecht erhalten, ist noch schrecklicher und widerwärtiger als der an ein ungeheures Blutbad und den Zusammenbruch der bestehenden Ordnung. Denn aus dem Chaos kann ein neues lebenskräftiges Volk wiedererstehn, nicht aber aus dem Sumpfe der Verkümmerung,
http://gutenberg.spiegel.de/…/weder-kommunismus-noch-kap…/16
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