Das Ziel muss die Umwandlung aller Gesunden in Kranke sein






Man kann unendlich viel für seine Gesundheit tun. Das hat aber
nicht viel, oft sogar gar nichts damit zu tun, ob und in welchem
Maße man sich als gesund empfindet – und Letzteres zählt.

Der Begriff „Gesundheit“ entzieht sich – wenn man einmal von der platten Floskel der Welt­gesund­heits­organi­sation (WHO) vom Zustand vollständigen Wohlbefindens absieht – weitgehend einer Definition. Schon die Frage nach ihr kann sie beeinträchtigen oder zerstören, wie dies für ähnlich sensible Gebilde wie Vertrauen, Liebe, Gnade, aber auch zum Beispiel für den Schlaf oder die Sättigung gilt. Man kann unendlich viel für seine Gesundheit tun; das hat aber nicht viel, oft sogar gar nichts damit zu tun, ob und in welchem Maß man sich als gesund empfindet – und Letzteres zählt. So kann das Paradox zustande kommen: Je mehr ich für meine Gesundheit tue, desto weniger gesund fühle ich mich. In diesem Sinne ist Gesundheit eben nicht machbar, nicht herstellbar, stellt sich vielmehr selbst her. Gesundheit gibt es nur als Zustand, in dem der Mensch vergisst, dass er gesund ist. Nach Hans-Georg Gadamer ist dies der Zustand „selbstvergessenen ... Weggegebenseins“ an den Anderen oder „das Andere“ der privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Lebensvollzüge.
Vor diesem Hintergrund kommt man um die ebenso logische wie bedrückende Feststellung nicht herum, dass wir seit etwa 200 Jahren mit zunehmender Wut kategorial falsch mit Gesundheit umgehen – mit katastrophalen Folgen für die Entwicklung der Gesundheit als Mittel der Vitalität. Denn seit wir uns mit der Säkularisierung, der Aufklärung und der Moderne vom metaphysischen Ballast aller Transzendenz befreien (von der Aristokratie und der Kirche bis zu Gott und der Natur), alles andere nur noch als Aneignungsobjekt wahrnehmen können, haben wir zwar allen Anlass, uns über den grandiosen Zugewinn an Freiheit, Verfügbarkeit und Reichtum dieser Eroberungsfeldzüge zu freuen, in denen der Mensch sich zunehmend an die Stelle der Natur, des Schicksals oder Gottes stellt, gewinnen aber offenbar erst allmählich ein Gespür für die Nebenwirkungen dieses Fortschrittsprozesses, wozu wir so etwas wie eine „zweite Aufklärung“ (Hubert Markl) bräuchten.
Dieses gilt nicht zuletzt für die Gesundheit. Denn auch wenn der Sieg über eine Krankheit oder ein Präventionsprogramm objektiv und messbar die Gesundheit fördert, kann dennoch eine Gesundheitsverschlechterung dabei herauskommen:
- wenn eine hypochondrische Überaufmerksamkeit auf das Selbst das Ergebnis ist;
- wenn wir Gesundheit für einen Stoff halten, den man nicht als Gabe zu empfangen hat, sondern sich aneignen und immer mehr davon haben wollen kann;
- wenn wir denken, wir könnten Gesundheit rational planen, herstellen, machen;
- wenn wir Gesundheit aus einem Mittel zum Leben zu einem Lebenszweck erheben und sie so missbrauchen;
- wenn wir sie zum höchsten gesellschaftlichen Wert verklären, wodurch sie, die eigentlich auf Verborgenheit angewiesen ist, vollends verhindert wird;
- und wenn wir uns somit die leidensfreie Gesundheitsgesellschaft zum Ziel setzen, in der jeder Bürger das Gesundheitssystem mit der Erwartung verknüpft, ihm gegenüber ein einklagbares Recht auf Gesundheit zu haben.
Die Gesundheitsgesellschaft treibt der Gesellschaft mit der Gesundheit die Vitalität aus – und so lange wird es im Vergleich mit anderen Gesellschaften Wettbewerbsfähigkeit weder in Lebenslust noch in Verantwortungsbereitschaft, noch in wissenschaftlichen oder industriellen Spitzenleistungen geben; und nur in Kombination dieser drei Merkmale wäre eine Gesellschaft vital und in diesem Sinne auch gesund.

https://www.aerzteblatt.de/archiv/32976/Gesundheitssystem-In-der-Fortschrittsfalle

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