Verlasst die Städte!
Charlotte Roche ist vor kurzem aufs Land gezogen - und heilfroh darüber. Denn die Großstadt macht den Menschen auf Dauer bloß krank, größenwahnsinnig und kriminell.
Es hat mit kleinen
Stadtfluchten angefangen. Mal rausfahren, im Wald spazieren gehen, dann
irgendwann wandern, dann Pilze bestimmen gelernt und plötzlich im Herbst
für die ganze Familie Essen im Wald gesucht. Von einem Kanulehrer in
Rente Kanufahren gelernt. Auf den umliegenden Flüssen und Seen Kanu
gefahren. Viel in die Natur gegangen und das ganze Hundetraining im Wald
durchexerziert, um den Familienhund artgerecht zu halten. Ein
Tierlosungsbuch gekauft, um die verschiedenen Kackhaufen im Wald
bestimmen zu können und den wilden Tieren zuordnen zu können.
Mein
Plan war: So mache ich mir die Stadt erträglicher. Das Ergebnis ist:
Sie wurde mir immer unerträglicher. In der Stadt biege ich mit dem Auto
ab, mache einen Schulterblick, Fahrradfahrer kommt, ich halte an,
Blickkontakt. Er schlägt mir trotzdem auf die Motorhaube, zeigt den
Mittelfinger, ruft »Dreckigekackfotze« und fährt weiter. Ich bin ja
nicht immer Autofahrerin, bin auch voll oft Radfahrerin, kenne diese
Todesangst vor Autofahrern, die keinen Schulterblick machen, bevor sie
abbiegen. Die Angst vor Diplomaten, die in zweiter Reihe parken und
Türen aufreißen ohne Schulterblick, weil sie aus Ländern kommen, in
denen es keine Radfahrer gibt und plötzlich steht die todbringende Wand
vorm Radfahrer, Genickbruch. Was Fahrradfahrer in der Stadt oft nicht
verstehen: der Autofahrer, gegen den sie grad kämpfen, ist sonst ein
Radfahrer. Immer dieser Krieg der verschiedenen Interessen. Der Kampf um
den unterschiedlich genutzten Raum.
Im
Park: Eine kleine Fläche, die künstlich angelegt wurde, um Städter ein
wenig zu beruhigen, sie sehen mal, wie Gras aussieht und kleine, vor
kurzem gepflanzte Bäume, damit sie die Seele baumeln lassen, aber nur
ein mini-bisschen! Trumanshow lässt grüßen. In der Stadt in einem Park
sein, im Vergleich zu dem Gefühl, in einem echt großen Wald zu sein, das
ist wie der Unterschied zwischen Virtual-Reality-Sex und Sex
mit jemandem, der das super kann und den man liebt und dem man vertraut.
Nicht
aufgehobene Hundehaufen gehören zur Stadt wie Kotzehaufen und
Menschenhaufen. Wenn Sie sich fragen, wie stellt Charlotte den
Unterschied zwischen Hundehaufen und Menschenhaufen fest, liegt es am
Studium des Losungsbuchs? Nein, man erkennt es am Taschentuch daneben!
Menschenlosung findet man meistens an Wochenenden, morgens, zwischen
geparkten Autos. Wie oft kommen wir aus der Wohnung raus und es wurde
auf unsere Motorhaube gekotzt? Die Stadt ist einfach keine artgerechte
Haltung für Menschen!
Ich kenne die Einwände der
Städter, habe ich auch alle benutzt: »Aber wenn ich mal was vergesse im
Supermarkt, kann ich das schnell im Kiosk noch spät abends kaufen!«
Eigentlich nur interessant für Alkohol- und/oder Zigaretten- und/oder
Zuckerabhängige. Bin ich alles nicht. »Aber wenn ich spontan ins Kino
will, gehe ich einfach!« Mir nie passiert. Nicht einmal! Unsere
Kinobesuche sind von langer Hand geplant, alle wollen vorher was
gesundes Essen gehen, weil wir den Scheiß, der im Kino angeboten wird,
nicht aushalten.
»Aber wenn jemand
einen spontan besuchen will, haben sie es nicht so weit.«
Überraschungsbesuche? Horror! Wenn es klingelt außerhalb der Zeit, wo es
DHL sein könnte, würden wir aus Todesangst vor Überraschungsbesuchen
von Freunden niemals die Tür öffnen, egal wie oft sie klingeln. »Aber
die Kultur!« Okay, wenn das jetzt Euer Killerargument ist, hier ist
meine Antwort: NETFLIX-ABO. Alle Argumente FÜR die Stadt sind also in
meinem Leben völliger Quatsch.
Der Indianer in mir vermisst echte Erde unter den Füssen. Die Bäume in
der Stadt sind eingemauert oder umgeben von Asphalt. Nachts sieht keiner
Sterne. Da fehlt dann die Demut vor dem Universum, denn wir denken: Wir
sind der Sternenhimmel, wir leuchten mehr als die Sterne. Aufm Land,
immer wenn ich draußen bin im Dunkeln, gibt’s diesen kurzen Blick zum
Himmel, ich werde klein, unbedeutend, ich verstehe das große Weite
nicht, das ist nur eins von vielen Universen. Bäm im Kopf! In der Stadt
ist der Blick ins All verhindert. Durch Nachtbeleuchtung. Ey, bitte!
Dass das überhaupt erlaubt ist!
Was
ist, wenn Burnout nicht von der Arbeit kommt, sondern von dem Ort an
dem wir leben und arbeiten? Der Stadt? Was ist, wenn ganz viele
Straftaten begangen werden von Menschen, die eigentlich die Stadt nicht
mehr aushalten und einfach mehr grün sehen müssten. Sie wenden sich, wie
Ratten im Experiment, gegen die eigenen Kollegen, weil alles zu nah und
eng ist. Was ist, wenn ganz viele verschiedene Drogen nur deswegen
konsumiert werden müssen, weil man sich in der Stadt nur wegschießen
kann? Was ist, wenn ganz viele psychische Störungen durch einen Umzug
aufs Land weggehen würden, weil man dort – umgeben von der beruhigenden
Farbe Grün – der Mensch wird, der man immer sein wollte, der man aber in
der Stadt nicht sein kann? Was ist, wenn ganz viele Anspannungen,
Blockaden und Verkrampfungen im Rücken, Nacken, Darm, Herz und Kopf von
der Stadt kommen? Und alle nehmen dagegen Medikamente, rennen zu immer
wechselnden Ärzten? Streiten sich, mit dem Partner, den Eltern, der
Chefin? Was ist, wenn es den Menschen krank macht, wenn er kein Grün
sieht, keine Natur spürt, riecht und fühlt?
Das
Schlimmste, wenn ich jetzt in die Stadt muss, ist, dass alles, was das
Auge sieht und alles, was dann das Hirn weiter ergänzt, mit Werbung und
Kaufanreiz zu tun hat. Iss’ hier, trink’ hier, kauf’ diese
C&A-Unterwäsche. Jedes einzelne Haus, jede Front, jede Litfasssäule,
jedes Plakat will was verkaufen. Jeder Zentimeter will deine
Aufmerksamkeit, um an dein Geld ranzukommen.
Im
Wald triffst du keine anderen Menschen, die dir voll auf den Sack
gehen, und bist nicht gezwungen, Plakate zu lesen, Werbung in deinen
Kopf zu lassen und anschließend bei Amazon einzukaufen. Die Natur will
dir nichts verkaufen. Du sollst nur sein, im Hier und Jetzt. Glücklich.https://sz-magazin.sueddeutsche.de/charlotte-roche-jetzt-koennte-es-kurz-wehtun/verlasst-die-staedte-85686
Kommentare
Kommentar veröffentlichen