Für Reuchlin war das Studium des Hebräischen nicht Selbstzweck. Er war weder ausschließlich Philologe, der nur an der Fremdheit der Sprache oder an ihrer Gesetzmäßigkeit Gefallen fand, nicht allein Theologe, der sich vollständig mit dem Erweckungsdienst begnügte, den er der Bibel leistete, sondern Philosoph. Das Studium des Hebräischen war ihm Mittel zum Zweck; es reizte ihn die jüdische Geheimlehre, die Kabbalah zu ergründen. Vielleicht war dies Verlangen schon von vornherein mächtig in ihm, es wurde bestärkt durch die Bekanntschaft mit dem erhabenen italienischen Philosophen Pico della Mirandola, die er in Italien gemacht hatte. Die Weisheit der Kabbalah verkündete er in zwei Werken „De verbo mirisico“ (vom wundertätigen Wort) 1494 und „De arte cabbalistica“ (von der kabbalistischen Kunst) 1517. Beide Werke haben die Form von Unterredungen, an denen Juden teilnehmen; der jüdische Unterredner der ersten Werkes führt den Namen Baruchias, der des zweiten den Namen Simon.
Das wundertätige Wort, dessen Kraft im ersten Buche dargetan werden soll, ist ein Tetragrammaton, „jene unvergleichliche Bezeichnung, von den Menschen nicht erfunden, sondern ihnen nur durch Gott anvertraut, ein heiliger und hoch zuverehrender Name, der Gott besonders in der Urreligion zukommt, der Allmächtige, den die Überirdischen anbeten, die Unterirdischen fürchten, die Statur des Weltalls küßt“.
Dieses Wort stellt die Verbindung her zwischen dem endlichen Menschen und dem unendlichen Gott. Diese große Bedeutung des wunderbaren Wortes kommt daher, weil jeder Buchstabe desselben seinen geheimnisvollen Inhalt hat. Der erste Buchstabe, ein Jod, der Gestalt nach ein Punkt, dem Zahlwert nach = zehn, deute Anfang und Ende aller Dinge an, der zweite He, als Zahlzeichen fünf, die Vereinigung Gottes (Dreieinigkeit) und der Natur (Zweiheit nach Plato und Pythagoras); der dritte Waw, dem Zahlwert gleich sechs, das Produkt der Einheit, Zweiheit, Dreiheit; der vierte He, dem zweiten gleich, bedeute die Seele, die das Medium zwischen Himmel und Erde, wie die fünf Mitte zwischen der Einheit und der heiligen Zehnzahl sei. Ist schon in dieser Namenserklärung eine Vereinigung der christlichen und jüdischen Lehre angedeutet, ein Hineingeheimnissen der christlichen .Mysterien in den jüdischen Gottesnamen, so soll durch die weitere Ausführung bewiesen werden, daß der Name Jesu nichts sei als eine Vermehrung des Tetragrammaton durch einen Buchstaben und zwar den s-Laut, der etwas Heiliges habe, da er im Hebräischen zur Bildung der Worte „heilige Zeder, heiliger Name, heiliges Öl“ diene. Demgemäss sei der Name Jesu und die durch ihn begründete christliche Lehre der Höhepunkt der philosophischen Bildung der Welt.
Ausgabe des zweiten Werkes ist zunächst der Beweis, daß die messianische Lehre, die, obwohl von Bibel und Talmud vorher verkündet, durch die jüdischen Erklärer nicht recht verstanden worden, der eigentliche Gegenstand der Kabbalah sei. Dieselbe Lehre nun sei auch der Grundstein der pythagoräischen Philosophie. Letztere habe indessen mit jener jüdisch-philosophischen Richtung auch die mannigfachsten Berührungspunkte in den großen Grundsätzen der Moral und den geheimnisvollen Wegen der Erkenntnis gemein. Der Erörterung dieser Geheimnisse, nämlich der 50 Pforten der Erkenntnis, der 32 Pfade, die zur Wahrheit führen, und der 72 Engel, welche die Vermittlerrolle zwischen Gott und Menschen spielen, ist ein großer Teil des Werkes gewidmet. Ein nicht minder großer der formellen Kabbalah, der kabbalistischen Kunst, deren Wesen darin besteht, ans den Worten einen tieferen Sinn als den gewöhnlichen zu entnehmen und zwar
1. durch Umstellung der Buchstaben innerhalb eines Wortes (Gimatria)
2. durch Auseinanderzerrung der Buchstaben eines Wortes, dergestalt, daß jeder als Anfangsglied eines neuen betrachtet wird (Notarikon),
3. durch eine derartige Vertauschung der Buchstaben, daß für den ersten des Alphabets der letzte, für den zweiten der vorletzte uns so sort gesetzt wird.
Beide Werke, so gelehrt sie auch sind, wurden in jüdischen Kreisen kaum beachtet, da man in ihnen weit bessere Führer zu jener geheimnisvollen Welt besaß, und fanden in christlichen Kreisen neben wenigen Gläubigen zahlreiche lächelnde und manche zürnende Ungläubige; ihre Wirkung ist daher in keiner Weise mit der zu vergleichen, die von den sprachlichen Studien ausging. Und doch muß man sich hüten, diesen Arbeiten missbilligend oder gar verachtend gegenüber zu stehen. Es sind nicht Träumereien eines Müßigen und noch weniger Verkehrtheiten eines Wundersüchtigen; vielmehr zeigt sich auch in ihnen das Bestreben eines ernsten Mannes zur Wahrheit und zu höherer Geistesbefriedigung vorzudringen. Reuchlins Streben wird gekennzeichnet durch den Satz, den er von den Kabbalisten braucht: „Sie begehren nichts anderes, als den Menschengeist zu Gott emporzuheben, sich vollkommene Glückseligkeit zu bereiten; schon in diesem Leben erwirbt sich der Mensch, wenn er diese Wissenschaft betreibt, Seligkeit, ewige Freude aber in jenem“.
Und gewiß mag man auf den ernsten Forscher den schönen Ausspruch Wielands anwenden: „Reuchlin sprach zur orientalischen Literatur das Machtwort Stehe auf, komme herauf, Toter! Der Tote kam, wie er war, mit rabbinischen Grabtüchern umwunden, sein Haupt mit dem Schweißtuch der Kabbalah verhüllt; das zweite Wort war und ist ungleich leichter: Löset ihn auf und lasset ihn gehen und das ist das gelobte Verdienst der Folgezeiten Reuchlins gewesen“.

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