Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl • Auszug aus dem Interview mit Jesper Juul geführt von Dr. Ingeborg Szöllösi

Wir hören es sehr oft, dass Menschen von sich sagen: „Wenn ich nur etwas mehr Selbstvertrauen hätte…“ Andere wiederum sagen: „Der hat ja überhaupt kein Selbstwertgefühl, wenn man sieht, wie er sich ausnützen lässt!“ – Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl sind zwei Begriffe, die sehr häufig verwendet werden, doch scheinen diese Begriffe einer Klärung zu bedürfen, denn jeder meint was ganz anderes damit…
Ja, sogar Psychotherapeuten und Psychologen haben da unterschiedliche Auffassungen. Und da muss ich Ihnen gleich eine Geschichte erzählen, denn sie wird zeigen, warum für mich persönlich der Unterschied zwischen Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl so wesentlich ist – wenn man nämlich die beiden Zustände, für die diese Begriffe stehen, verwechselt, dann kann es zu einer völlig falschen Diagnose kommen und der Klient wird nie und nimmer sein Problem durchschauen. Die Geschichte also: Ich wurde gebeten, in einer Klinik eine Psychologin, die mit alkoholsüchtigen Menschen arbeitet, zu supervidieren. Einer ihrer Patienten war ein fünfunddreißigjähriger Mann, der einige Mal Weltmeister in seiner Sportart geworden war, also ein sehr bekannter Mensch. Die Klinik-Psychologin hatte es zwar geschafft, dass er seit acht Monaten nicht mehr trank, aber trotzdem meinte sie, finde er sich in der Welt nicht zurecht. In einer typischen Psychologensprache meinte sie, er hätte eine ganze Menge Widerstand und das, weil er wohl kein Selbstvertrauen hat. Als ich dazukam, stellte ich diesem jungen Menschen zwei Fragen. Die erste Frage lautete: „Wie kam es, dass Sie Weltmeister geworden sind?“ Und da erzählte er, wie alles anfing: In der Schule, der zweiten Stufe, war es damals üblich, dass einmal im Jahr Klassenlehrer den Eltern Hausbesuche abstatteten. Sein Klassenlehrer kam also auch zu ihnen und meinte, es wäre alles in Ordnung mit ihm, das Einzige, was ihm aufgefallen wäre, sei, dass ihr Sohn sehr wenig Selbstvertrauen habe. Seine Eltern meinten, ihnen sei das auch aufgefallen, und die Frage war dann: „Was lässt sich machen?“ Der Lehrer schlug vor, da der Junge sehr sportlich war, dass ihn die Eltern darin unterstützen sollten, ein guter Sportler zu werden – und das würde dann sein Selbstvertrauen stärken. So unterstützten ihn also die Eltern, hatten aber nie den Ehrgeiz, aus ihrem Sohn einen Champion zu machen. Aber er wurde es und war sehr erfolgreich. – Meine zweite Frage war dann: „Warum haben Sie angefangen, so viel zu trinken?“ Als er mit seiner Sport-Karriere aufgehört hat, merkte er plötzlich, dass er keine wirklichen Freunde hat. Er hatte zwar einen ganzen Fan-Club um sich herum, aber keine wahren Freunde, d.h. die Menschen, die ihn umgaben, waren nicht da, weil er so ist, wie er ist, sondern wegen seines Images – sie schätzten nicht ihn als Person, sondern seine Leistung.
Nun sollte er aus der Klinik entlassen werden und war so schrecklich aufgeregt, dass er seiner Psychologin plötzlich sagte, er habe zu wenig Selbstvertrauen. Als sie das hörte, hat sie einen Plan für ihn ausgeheckt: Er sollte, da er ja noch immer einen Namen hatte, zu dem lokalen Sport-Club gehen und dem Club anbieten, dass er Kinder und Jugendliche trainieren würde. Ihrer Meinung war das der perfekte Weg, ihn wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Er aber empfand so viel Widerstand bei diesem Gedanken, dass er es nicht tun konnte, obwohl er intelligent genug war, um festzustellen, dass die Idee seiner Psychologin gut war. Nur, er konnte sie nicht umsetzen! – Warum? Weil nicht das sein Problem war: Er hatte genug Selbstvertrauen, aber kein Selbstwertgefühl. Also, was der Lehrer vor vielen Jahren, als er acht Jahre alt war, und was die Psychologin heute bei ihm festzustellen meinten, war falsch. Nach 30 Jahren macht auch sie als Therapeutin denselben Fehler: Wenn die Diagnose, er habe zu wenig Selbstvertrauen gestimmt hätte, wäre der Weg, den sie vorgeschlagen hatte, völlig geeignet gewesen. Aber so konnte ihre „Medizin“ natürlich nicht wirken.
Dieser Mensch hatte also viel Vertrauen in seine Fähigkeiten als Sportler, aber wenig in sich selbst als Mensch?
Ja, er ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass es zwar wunderbar sein kann, Selbstvertrauen zu haben, aber dass es existenziell nicht ausreicht. Selbstvertrauen hast du in ganz bestimmten Bereichen – z.B. in Mathematik oder Sport, aber wenn du kein Selbstwertgefühl hast, wirst du immer wieder von dir behaupten: „Ich habe zu wenig Selbstvertrauen!“ Du spürst nämlich, dass dir etwas fehlt und nennst es Selbstvertrauen, aber meinst eigentlich Selbstwertgefühl.
Welches ist der Unterschied überhaupt?
Das Selbstwertgefühl hat nichts damit zu tun, was für tolle Fähigkeiten du hast, wie gut du in ganz bestimmten Bereichen bist und was du alles erreichen kannst, sondern es hat damit zu tun, wer du bist und wie du dich selbst darauf beziehst, wer du bist. – Und mit dem Selbstvertrauen verhält es sich also recht einfach: Ein Kind, das zu wenig Selbstvertrauen hat, kannst du unterstützen, indem du ihm zum Beispiel bei den Hausaufgaben hilfst – und dann wird es gewiss von Mal zu Mal besser in der Schule und allmählich mehr Selbstvertrauen entwickeln. Es wird vielleicht kein guter Fußballspieler, denn dazu fehlt ihm das Talent, also wird es in diesem Bereich wenig Selbstvertrauen haben, aber es wird allmählich bessere Schulaufsätze schreiben.
Für Menschen, die ein gutes Selbstwertgefühl haben, ist es kein Problem, ein niedriges Selbstvertrauen zu haben – denn die sagen sich dann: „OK, ich wollte zwar Klavier spielen lernen, ich habe zwei Jahre Unterricht gehabt, aber ich bin leider nicht gut genug, um ein Pianist zu werden!“ Sie sind vielleicht darüber etwas traurig, aber es ist überhaupt keine Tragödie. Wenn sie aber kein gesundes Selbstwertgefühl haben, heißt so eine Einsicht dann gleich: „Ich habe versagt! Ich bin in allem schlecht! Was immer ich versuche, ich kann’s nicht. Wenn ich in den Spiegel schaue, merke ich, dass alle anderen viel schöner, viel klüger, viel erfolgreicher sind als ich!“ Dann sehen solche Menschen alles schwarz.
Menschen mit mangelndem Selbstvertrauen kann man also leichter helfen?
Ja, mit Training, Übung, Coaching, vielen Feedbacks (die allerdings sachlich sein sollten und nicht emotional), kann ein Mensch in ganz bestimmten Bereichen Selbstvertrauen entwickeln. Wenn wir aber über mangelhaftes Selbstwertgefühl sprechen, dann verlassen wir die pädagogische Sphäre, in der es immer wertvolle Tipps gibt, um gewisse Aufgaben mit Erfolg zu verrichten, und gelangen in die existentielle: Kann ich mich selbst tragen und annehmen so, wie ich bin? Das Selbstwertgefühl hat zwei Dimensionen – eine kognitive: Wie gut kenne ich mich? Was könnte ich noch in mir entdecken?, und eine affektive: Wie fühle ich mich im Zusammenhang mit dem, was ich über mich selbst weiß? Ist es beschämend für mich? Fühle ich mich schuldig? Muss ich mich die ganze Zeit kritisieren? Bin ich ständig unglücklich mit dem, was ich bin? Es gibt sehr viele Möglichkeiten, dich auf dich selbst zu beziehen.
Zum Beispiel, wenn eine Frau ihre intellektuellen Fähigkeiten voll und ganz in ihrem Leben einsetzt, dann kann es sein, dass sie etwas in sich spürt, was sie vernachlässigt, nämlich ihre leidenschaftliche Seite. Sie weiß es aber über sich selbst, dass es da in ihr noch jemanden gibt, der leidenschaftlicher leben möchte, und wenn sie das spürt und weiß, dann kann sie dieser Seite auch zum Leben verhelfen. Und selbst wenn sie es nicht schafft, leidenschaftlicher zu leben, es wird für sie nur dann zum Problem werden, wenn sie sich moralisierend auf sich selbst bezieht, wenn sie sich also selbst verurteilt und sagt: „Wie furchtbar, dass sich diese Leidenschaft immer wieder bemerkbar macht! Ich möchte mich damit aber nicht weiter beschäftigen!“ Wenn sie sich diese Seite also nicht anschaut und ausblendet, dann wird sie ein Problem haben. Denn was sie dann machen würde, wäre, sich selbst klein zu machen, indem sie ihr intellektuelles Ego völlig aufbläht. Und das allein kann sie gewiss nicht durchs Leben tragen.
Man kann also sein niederes Selbstwertgefühl nicht damit aufwerten, dass man an seinem Selbstvertrauen arbeitet. Kennen Sie das auch aus Ihrem eigenen Leben?
Ja, natürlich, ich gehöre zu einer Generation, die ganz allgemein ein niedriges Selbstwertgefühl hat. – Wenn ich heute einen Vortrag vor 500 Menschen halten soll, dann würde ich das nicht deswegen ohne Weiteres tun, weil ich so ein gutes Selbstwertgefühl habe. Nein, ich würde es tun, weil ich über all die Jahre gute Feedbacks bekommen habe: Ich weiß, dass ich meist sehr gute Vorträge halten kann – mein Selbstvertrauen macht es mir also möglich, einen Vortrag zu halten, und nicht mein Selbstwertgefühl – wenn ich mich nämlich auf letzteres verlassen würde, dann würde ich mich eher im Hotelzimmer einsperren, statt mich der Öffentlichkeit zu zeigen.
Das klingt so, als wäre das Selbstvertrauen „minderwertiger“ als das Selbstwertgefühl?!
Nein, Selbstvertrauen ist im Leben genauso wesentlich wie Selbstwertgefühl – sie verhalten sich zueinander wie Fleisch und Wein, beide gehören zu einer Mahlzeit, sind aber komplett unterschiedlich, weil sie von unterschiedlichen Quellen gespeist werden. Das Selbstwertgefühl entscheidet sehr über die Qualität unseres Lebens und unserer Beziehungen zu anderen Menschen. Menschen, die ein niedriges Selbstwertgefühl haben, haben große Schwierigkeiten, ihre wahre Größe zu finden: Sie machen sich zu klein oder zu groß; einige wollen unsichtbar sein, andere exponieren sich die ganze Zeit und wollen nichts sehnlicher, als gesehen zu werden.
Erziehung ist also schlichtweg Beziehung?! Auszug aus dem Interview mit Jesper Juul geführt von Dr. Ingeborg Szöllösi
https://shop.famlab.de/Aus_Erziehung_wird_Beziehung

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